Bevor zu viele Leser jetzt Schnappatmung bekommen. Natürlich ist diese Aussage nicht ernst gemeint, soll aber den Paradigmenwechsel im Content Marketing symbolisieren.
Ich habe immer wieder den Eindruck, dass trotz der letzten Jahre, Millionen von Artikeln und zig Konferenzen, das Thema ‘(strategisches) Content Marketing’ bei vielen Marketer und Unternehmen noch nicht wirklich angekommen ist.
Es gibt ja diesen frivolen Spruch: “Thema XY ist wie Sex im Teenager-Alter. Jeder spricht darüber. Keiner weiß wirklich, wie es geht. Alle denken, dass die anderen es tun, also behauptet jeder, dass er es auch tut.“ Fast genauso verhält es sich meiner Meinung nach mit Content Marketing. Woran aber scheitert Content Marketing im Alltag? Warum ist das Thema für viele Unternehmen so schwer umsetzbar? These: Weil viele Marketer immer noch viel zu egozentrisch an das eigene Produkt denken.
Content Marketing – jeder redet von etwas anderem
Bereits im Interview mit Falk Hedemann “Warum Content-Marketing in vielen Unternehmen auf der Stelle tritt” war eine der Kernaussagen, dass eigentlich jedes Unternehmen und jeder Marketer eine eigene Definition von Content Marketing hat. Neben dem kleinsten gemeinsamen Nenner, dass Content Marketing Inhalt ist, der informiert, berät und unterhält, mischt jeder noch gerne eine eigene Prise seiner Branche mit hinein. Dann werden Buzzwords wie Inbound Marketing, Social Media, Storytelling, Lead-Generierung usw. usw. usw. hinzugefügt. Und – ohne ins Detail zu gehen – haben auch alle irgendwie Recht. Alle diese Stichwörter – und noch viele viele mehr – kreisen wie Satelliten um das Thema Content Marketing. Auch die im Interview erwähnte Strategie respektive die oft fehlende Strategie inkl. undefinierter Verantwortlichkeiten, fehlendem Budget und andere interne Unternehmensfaktoren sind prinzipiell nicht falsch und müssen definitiv betrachtet werden.
Aber Stopp: Meiner Meinung nach, sollte für ein grundlegendes Verständnis von Content Marketing schon deutlich früher im Entstehungsprozess mit der Analyse begonnen werden. Bevor wir über die strategische und operative Ausrichtung, die Unternehmensstrukturen, das Budget, das Knowhow, die Core-Story, ROI, Kennzahlen etc. sprechen, sollten wir dort ansetzen, wo Content Marketing “geboren” wird. Im Kopf des Marketer – oder eben auch im Kopf der Geschäftsführung.
Die berühmte andere Seite des Schreibtisches
Vor einiger Zeit habe ich mir – eher spontan beim Spaziergang – ein paar Gedanke dazu gemacht und neben den Berichten aus dem Internet auch meine bisherige Berufserfahrung reflektiert. Für mich hat Content Marketing – rein psychologisch gesehen – in einem ersten und entscheidenden Schritt, mit einem Paradigmenwechsel im Mindset zu tun. Es wird oft davon gesprochen den Interessenten bzw. seine Pain-Points in den Mittelpunkt zu stellen – alias Kundenzentrierung oder Customer Centricity. Also zu verstehen, was der Kunde will und braucht und dies dann in die Customers Journey einzubauen und dem Interessenten zur richtigen Zeit anzubieten. Eigentlich alles richtig. Nur um das zu verstehen, muss der Marketer sprichwörtlich die Seite des Schreibtisches wechseln. Und genau das fällt vielen Marketing-Verantwortlichen extrem schwer.
Zugegeben, das haben viele Marketer auch nie wirklich gelernt und es widerspricht eigentlich komplett dem allgemeinen Unternehmensdenken. Wir – also wir Mitarbeiter:innen eines Unternehmens – wurden eingestellt, um das Unternehmen nach vorne zu bringen und die Produkte und Dienstleistungen zu “verkaufen”. All das steht im Mittelpunkt und wird uns durch Monats- und Jahreszahlen auch immer eingetrichtert. Und daran ist auch prinzipiell nichts falsch. Die Daseinsberechtigung eines Unternehmens ist es, “am Ende des Tages” mehr Geld einzunehmen als auszugeben – simple as that. Und jeder Mitarbeiter muss seinen Teil dazu beitragen.
Es geht beim Content Marketing aber darum zu verstehen, dass man (besser) verkauft, wenn man nicht verkaufen will. Klingt komisch, ist aber so.
Darum die steile These: Content Marketing ist (auch) Inhalt, der nicht verkaufen will und mit dem der Leser auch bei der Konkurrenz einkaufen könnte. Quelle: https://twitter.com/Baetschman_de/status/1276900705253707781
Wir Marketer haben gelernt, dass wir im Großen und Ganzen “verkaufen” müssen. Es geht darum direkt oder indirekt Umsatz zu generieren, aus dem dann hoffentlich Gewinn wird (inkl. unserer eigenen Lohnschecks natürlich). Oft geht es dabei um höher, schneller, weiter. Content Marketing bricht dieses seit Jahrzehnten angelernte Verhalten aber komplett auf. Zumindest auf den ersten Blick.
Content Marketing heißt weg vom Produkt hin zum Thema
Ein Content-Marketing-Verantwortlicher muss zu allererst den geistigen Paradigmenwechsel vollziehen, dass sein Unternehmen respektive sein Produkt und seine Dienstleistungen nicht der Mittelpunkt des Universums sind und dass Kunden und Interessenten nicht daran interessiert sind, brandaktuelle Neuigkeiten aus der Ego-Sicht des Unternehmens zu erfahren. Interessenten sind in erster Linie daran interessiert ihr ganz persönliches Problem (Stichwort: Buyer Persona) zu lösen.
Vor einiger Zeit hat Antje Seeling eine spannende Anekdote geschrieben, wie ein Weinhändler bei seiner Kundenansprache eigentlich eigentlich alles falsch macht, was man falsch machen kann. Antje Seeling beschreibt, wie dieser Weinhändler in seinem eigenen Newsletter (egozentrisch) von seinen Weinen und den dessen Vorzügen spricht. Was in dieser Situation aber deutlich passender gewesen wäre, wären z. B. Speisen (Fleisch, Fisch, Wild, vegetarisch usw.) oder auch Situationen (Geburtstag, Aperitif, romantisches Daten usw.) bei denen die Weine passen. Der “Wein-Trinker” hat also nicht das Problem, dass er tollen Wein zu einem guten Preis möchte, sondern dass er oder sie nicht weiß, welchen Wein er für welchen Anlass kaufen soll. Das ist also sein oder ihr Pain-Point. Natürlich spielen Qualität und Preis fast immer (auch) eine Rolle, aber erst auf nachgelagerter Ebene. Eine gute Rebsorte ist ohne Frage wichtig, beantwortet aber nicht die Frage, ob der Wein gut zu Fisch passt oder beim romantischen Date durch seine Säure für Sodbrennen sorgt.
Auch eine Art “Konfigurator”, welcher basierend auf Weinsorten, die man bei Freunden im Regal gesehen hat, eigene Empfehlungen erstellt, wäre eine tolle Möglichkeit.
Mirko Lange [LinkedIn Profil] hat seit einiger Zeit den Ausdruck geprägt: Menschen kaufen eigentlich keine Bohrmaschine, sondern das Loch in der Wand.*
Ich würde sogar noch eine Schritt weiter gehen. Menschen kaufen auch nicht das Loch in der Wand oder das aufgehängte Bild an der Wand. Menschen kaufen das (hoffentlich) warme Gefühl, das sie bekommen, wenn sie das tolle Bild an der Wand betrachten.
Exkurs: Weg vom Produkt und hin zum Thema, oder warum ich Fan von Marketing-Abteilungen von professionellen Erotik-Seiten bin
Marketing-Abteilungen in der Erotik-Branche können gar nicht oder nur sehr schwer mit dem “Original-Produkt” Werbung/Marketing machen und sind darum geradezu verdammt, andere Marketing-Wege zu finden – gesetzlich und auch moralisch/gesellschaftlich. Dies hat bei professionellen Seiten in den letzten Jahren zu sehr spannenden Marketing-Aktionen geführt. Die Frage ist: Wie schaffe ich es, dass Medien und Menschen (Kunden?) positiv über mich als Unternehmen sprechen, ohne mein Produkt zu erwähnen? Oder wie in diesem Fall, wenn mein Produkt von einem Teil der Bevölkerung von natura aus kritisch gesehen wird?
PornHub (einer der Marktführer) ist Meister darin neue Wege zu beschreiten. Die Marketing-Abteilung hat z. B. herausgefunden, dass viele Kunden das Portal auf Reisen – ergo in Hotels – verwenden. Hotel-W-LANs bergen jedoch eine gewisse technische Unsicherheit (Hacker, Datenschutz etc.). Also hat PornHub einen eigenen und ganz regulären VPN-Service gestartet, den man theoretisch auch nutzen kann (Freemium-Modell) ohne das Original-Produkt zu verwenden. Auch legendär war die Badehose oder kostenlose Accounts für ein ganzes Dorf in Österreich.
Als Corona wütete und die Menschen durch Lockdowns zuhause bleiben mussten, durften zuerst alle Nord-Italiener und dann alle Italiener kostenlose die komplette Website nutzen – auch den Premium-Bereich. Eine Liste an Aktionen findet sich auf Onlinemarketing.de und WuV.de (also hochoffizielle Medienseiten).
Auch was das Community-Building angeht, ist Pornhub teilweise um Lichtjahre anderen Unternehmen voraus. T-Shirts – also klassische Merchandise-Artikel – werden in der Öffentlichkeit getragen und Menschen machen kostenlose Werbung auf Social Media.
Natürlich dreht sich auch in diesem “vom Produkt entkoppelten Marketing” irgendwie alles um das Produkt bzw. die Dienstleistung, denn am Ende will auch Pornhub Geld verdienen.
Spannend auch die Video-Eigenproduktion von Pornhub, in dem man sieht, was man halt in so einem Film dieser Art sieht, aber alles passiert an einem total vollgemüllten Strand. Pornhub will damit auf die Verschmutzung der Meere aufmerksam machen und nennt den Film darum “Dirtiest Porn Ever“ (Welt.de). Damit hat eine Erotik-Seite vermutlich mehr für den Umweltschutz getan als 3/4 aller Unternehmen.
Oder wie Awaria.com über Pornhub-Marketing schreibt: “Marketing campaigns you can’t not talk about”
Während ich diese Zeilen schrieb fiel mir eine verrückte Marketing-Idee ein. Die Zeilen hätten eigentlich so lauten sollen: Selbst wenn Pornhub Bäume pflanzen würde, was ja erstmal komplett nichts mit dem Original-Produkt zu tun hat, würde ihnen eine passende Kampagne dazu einfallen. Z. B. “Ein Mann muss im Leben ein Haus bauen, ein Kind zeugen und einen Baum pflanzen. Wir haben den Baum übernommen, den Rest musst du selber erledigen.” – oder so ähnlich. Und das Ganze war auch eher als Scherz gemeint. Bei meinen Recherchen habe ich jedoch entdeckt, dass Pornhub aber bereits ein “Aufforstungsprogramm” hat – EIN AUFFORSTUNGSPROGRAMM. Auch eine Spendenaktion für den Schutz von Bienen, Pandas und Walen. Und alle diese Kampagnen werde so produziert, dass sie natürlich auf das Produkt und die Marke einzahlen und damit ganz klar Marketing sind und “am Ende des Tages” Geld bringen.
Last but not least ist an diesem Beispiel auch spannend zu beobachten, wie neue Produkte wie z. B. der VPN-Service auf Basis von Nutzerzahlen – also einer Markt- und Zahlenanalyse durch die Marketing-Abteilung – lanciert werden. Aber das ist eine andere Geschichte.
Zurück zur These: Content Marketing: Schreibe für die Konkurrenz
Bei dem Wein-Beispiel von Antje Seeling zeigt sich, was ich mit “Schreibe für die Konkurrenz” meine. Der Leser oder die Leserin kann mit der Weinempfehlung auch dankend seiner oder ihrer Wege ziehen und im Supermarkt um die Ecke einkaufen gehen – oder noch schlimmer, bei der direkten Konkurrenz. Das ist eine Gefahr die – rein theoretisch gesehen – beim Content Marketing immer existiert. Content Marketing beinhaltet “kostenlose” und nützliche – also für den Leser direkt verwertbare – Informationen. Das Unternehmen geht in Vorleistung. Diese Vorleistung kann dann u. U. auch “gestohlen werden”. Spoiler: Die Vorteile von Content Marketing überwiegen bei weitem.
Gleich verhält es sich mit den Klassikern des Content Marketings. Ich kann den Michelin Straßenatlas auch nutzen, ohne Michelin Reifen zu fahren. Ich kann die Rezepte im Dr. Oetker Backbuch auch mit Noname-Produkten nach backen und ich kann die Düngermitteltipps in John Deers Magazin “Die Ackerfurche” auch anwenden, ohne einen John Deer Traktor zu fahren.
Wer das grundsätzliche Wesen von Content Marketing verstehen will, muss diesen psychologischen Paradigmenwechsel durchlaufen. Ohne dieses “neue” Mindest (John Deers Magazin “Die Ackerfurche” erschien zum ersten Mal 1895), wird Content Marketing immer nur eine Online-Marketing-Technik unter vielen bleiben und im besten Fall flaches taktisches Content Marketing sein. Eine Honeypot für Leads. Content Marketing kann aber so viel mehr sein. Hierfür brauchen wir neben Knowhow auch Vertrauen (was an dieser Stelle nicht die Abwesenheit von Zahlen und Controlling bedeutet). Darum: Seid mutig liebe Content Marketer. Es lohnt sich für euch, euer Unternehmen und die Qualität des Internets.
Zusätzliche Informationen und Einordnung:
Sehr oft (eigentlich immer) geht es im Marketing allgemein um ROI und die “zahlenmäßige Beweislast” für den Erfolg vom Kampagnen. Und im Content Marketing im Speziellen um Tools und Techniken wie z. B. Lead-Generierung, Touchpoints, Core-Stories usw.. Hierzu gibt es auch bereits etliche gute Artikel.
Ziel dieses Artikel ist es nicht, Content Marketing als verspielte und verträumte “Regenbogen-Marketing-Technik” dazustellen, sondern den entscheidenden philosophischen und gedanklichen Schritt herauszuarbeiten, der im Kopf vom Marketing-Verantwortlichen und CEOs ablaufen muss, um das Wesen von Content Marketing von Grund auf zu verstehen. Bevor wir über Abteilungshierarchien, Prozesse, Tool, Content-Formen, Themen, Kanäle, ROI, Controlling, Budget etc. sprechen, muss dieser unsichtbare Schalter umgelegt werden. Sonst verkümmert Content Marketing zum Cargo-Kult.
* Das Beispiel von Mirko Lange mit dem Loch in der Wand ist natürlich dann passend, wenn es z. B. um Suchintention (SEO) auf Google und Co. geht. Nutzer suchen nicht nach “warmem Gefühl beim Betrachten eines Bildes” sondern z. B. nach “wie bringe ich ein Bild an der Wand an” oder “wie bohre ich ein Loch in die Wand”. Dann ist das gedankliche Bild vom “Loch in der Wand” natürlich wieder richtig und entscheidend für strategisches Content Marketing und die Distribution bzw. Auffindbarkeit.
Content Marketing Manager
Generalist: Projektmanager mit Faible Content Marketing & Social Media, ausgebildeter Journalist & PR-Berater, Erfahrung in Unternehmenskommunikation, Digitalisierung und Collaboration-Tools.